Trendreport: „Zeit für die Pflegewende“
03.04.2025 - Lesezeit: 10 Minuten

Warum Pflege zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor heranwächst, erkundet der Trendreport „Pflegewirtschaft in Berlin“. Welche Chancen und Herausforderungen damit verbunden sind, schildert Dr. Daniel Dettling, Geschäftsführer der Gesundheitsstadt Berlin.
Der Trendreport „Pflegewirtschaft in Berlin“ bewertet die Pflegewirtschaft als immer wichtigeren Wirtschaftsfaktor. Doch so richtig darüber freuen wollen Sie sich nicht. Woran liegt das?
Daniel Dettling: An der Demografie. Sie umfasst gleich drei Herausforderungen. Die erste: Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt rapide. Sie wird sich in Berlin in den nächsten zehn Jahren verdoppeln. Die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge gehen allmählich in Rente. Frauen und Männer im geburtenstärksten Jahrgang 1964 haben ihren 60. Geburtstag schon gefeiert und sind in 10 bis 20 Jahren potenziell pflegebedürftig. Das wird, steuern wir nicht rechtzeitig gegen, zu einer Kostenexplosion der Beiträge führen. Dass sich dieser Trend fortsetzt, zeigen auch die neuen Zahlen, die der Berliner Senat jüngst veröffentlicht hat.
Gibt es für diese künftigen Pflegebedürftigen dann genügend Pflegekräfte?
Daniel Dettling: Eben nicht, und das ist die zweite demografische Herausforderung. Die Zahl der Pflegekräfte sinkt, weil jedes Jahr in Deutschland weniger Menschen geboren werden. Wir sehen Rückgänge von bis zu 30 Prozent, vor allem in den neuen Bundesländern. Diese Menschen fehlen in zehn oder 15 Jahren auf dem Markt.
Worin besteht die dritte demografische Herausforderung?
Daniel Dettling: Die hängt eng mit den beiden ersten zusammen. Es gibt immer mehr Pflegebedürftige – aber auf der anderen Seite zugleich immer weniger Menschen, die in die Pflegeversicherung einzahlen. Da ist eine Schieflage vorprogrammiert.
Wie bewältigen wir diese drei Herausforderungen?
Daniel Dettling: Zum Glück gibt es auch gute Nachrichten. Eine davon lautet: Aktuell steigt die Zahl der Pflegekräfte. Für den Beruf sprechen die ausgesprochen positiven Zukunftsaussichten. Doch die besten Aussichten helfen wenig, wenn die Gegenwart nicht stimmt. Sprich: Die aktuellen Arbeitsverhältnisse müssen passen. Und da hakt es häufig.
Wo hakt es im Arbeitsalltag der Pflegekräfte?
Daniel Dettling: In einem Wort: Bürokratie. Pflegekräfte wollen sich um Menschen kümmern, und nicht stundenlang am Bildschirm ihre Arbeit dokumentieren. Da haben wir Deutschen es mit unserer Perfektionslust deutlich übertrieben. Wir brauchen einen Mindshift: Weg von „Was nicht explizit erlaubt ist, ist verboten“ und hin zu „Was nicht verboten ist, ist erlaubt“. Das muss die Maxime sein. Wir brauchen eine Vertrauenskultur in der Pflege.
Das wird sich wahrscheinlich erst ändern, wenn der Druck so stark wächst, dass bei einem „Weiter so!“ das Pflegesystem zusammenbricht.
Daniel Dettling: Der Druck auf das Pflegesystem ist stark gewachsen. Ein „Weiter so!“ ist nicht mehr lange möglich. Die Politik hat das Problem erkannt. Auch deshalb bin ich gespannt, was wir in den kommenden Monaten aus dem Bundestag hören werden.
Bürokratie abzubauen, steht seit Jahrzehnten in allen Absichtserklärungen von neuen Regierungen. Umgesetzt wird eher wenig …
Daniel Dettling: In der Pflege gibt es glücklicherweise viele Ansatzpunkte, um Bürokratie abzubauen. Der entscheidende Umschwung, den wir brauchen: weg von einer Misstrauens- und hin zu einer Vertrauenskultur. Die Pflegekräfte wissen, was sie tun. Natürlich braucht es Transparenz und ein Monitoring, aber wir haben es mit den Regulierungen übertrieben. Das schreckt viele Menschen ab, sich den Pflegeberufen zuzuwenden. Oder sie springen schnell wieder ab.
Ist die Fluktuation in der Pflegebranche ein großes Problem?
Daniel Dettling: Die durchschnittliche Verweildauer ist nicht hoch. Allmählich ändert sich das, aus mehreren Gründen. Die Wertschätzung steigt: Da hat sich durch Corona einiges verbessert. Die Bezahlung ist besser, das sollte niemand unterschätzen. Die Fachkräfte werden besser qualifiziert, damit steigt die Arbeitszufriedenheit. Noch besser wäre es, wenn Pflegekräfte ihre Kenntnisse auch umsetzen dürften, da greift in Deutschland noch allzu oft der Arztvorbehalt. Das heißt: Was Pflegekräfte tun könnten, etwa Spritzen zu setzen, muss trotzdem ein Arzt machen. Da lassen sich sinnvollere Regelungen finden. Wenn dazu noch Entlastung durch weniger Bürokratie käme, könnten wir die Fluktuation noch weiter senken.
Wie stehen Sie zur Entlastung der Pflegekräfte durch Maschinen, also beispielsweise Roboter?
Daniel Dettling: Das ist eine sinnvolle Entlastung. Maschinen lösen den Menschen ja nicht ab, sondern übernehmen bestimmte Aufgaben. Stichwort „Scham“: Viele Pflegebedürftige lassen sich lieber von einem Roboter waschen, weil sie gegenüber einer Maschine kein Schamgefühl entwickeln. Ein anderes Beispiel: Roboter sind verlässlich gut gelaunt, was Menschen etwa im Umgang mit dementen Pflegebedürftigen nicht immer garantieren können.
Sehen die Pflegekräfte diese Vorteile ebenfalls?
Daniel Dettling: Wer in die Pflege arbeitet, möchte mit Menschen zu tun haben. Gerade die jüngeren Pflegekräfte zeigen keinerlei Vorbehalte gegenüber digitalen oder maschinellen Hilfen. Umso mehr können sie ihre menschlichen Stärken wie Empathie und Neugierde einbringen.
Sie hatten anfangs die Schieflage bei der Pflegeversicherung kritisiert. Lassen sich digitale und maschinelle Abläufe überhaupt einführen, wenn das Geld fehlt?
Daniel Dettling: Die Pflegewirtschaft wächst dynamisch, und tatsächlich kann die Pflegeversicherung in ihrer jetzigen Form bei diesem Wachstum nicht mithalten. Die solidarische Pflegeversicherung, so wie wir sie seit 30 Jahren kennen, muss umgebaut werden.
Wie sollte eine sinnvoll aufgebaute Pflegeversicherung aussehen?
Daniel Dettling: Bei einer Reform sollten die Bundesländer verstärkt in die Pflicht genommen werden, etwa indem sie die Ausbildungskosten für Pflegekräfte übernehmen. Derzeit werden diese Kosten über die Pflegeversicherung an die Pflegebedürftigen und ihre Familien abgewälzt. Das muss besser gestaltet werden, die Pflegebedürftigen und ihre Familien müssen finanziell entlastet werden.
Was ist mit neuen Formen der Pflege, die weniger teuer sind als Pflegeheime?
Daniel Dettling: Das ist ein absolut sinnvoller Trend. 90 Prozent der Pflegebedürftigen wollen in ihrem häuslichen Umfeld bleiben – das sollte auch möglich sein. Viele Babyboomer haben früher in Wohngemeinschaften gelebt. Der Gedanke, in einer Alters-WG zu leben, ist für sie durchaus attraktiv. Dann gibt es noch die Generation der Über-60-Jährigen, die zwar schon in Rente ist, allerdings noch fit und durchaus willens, sich zu engagieren. Dieses Potenzial für sogenannte Caring Communities, sich kümmernde Nachbarschaften, zu aktivieren: Da ist viel Musik drin!
Wer finanziert diese neuen Wohnformen – die Berliner Volksbank?
Daniel Dettling: Was spricht dagegen? Die genossenschaftlichen Banken sind bekannt für ihr soziales Engagement. Das können sie einbringen bei der nächsten großen gesellschaftlichen Aufgabe, vor der wir stehen: Es ist Zeit für eine Pflegewende!

Zukunftsforscher Dr. Daniel Dettling ist Geschäftsführer der Gesundheitsstadt Berlin. Der gemeinnützige Verein versteht sich als interdisziplinäre Plattform für alle Akteure des Gesundheitswesens in Berlin und Brandenburg. Gesundheitsstadt Berlin fördert und gestaltet die Hauptstadtregion als führendes Zentrum der Gesundheitsversorgung, der Gesundheitswissenschaft und des Gesundheitswesens. Sie ist Herausgeberin des Trendreports „Pflegewirtschaft in Berlin“.