Vattenfall: 350.000 Badewannenfüllungen für Berlin
05.01.2023 - Lesezeit: 7 Minuten

Die Bausteine für die Wärmewende in Berlin sind bei Vattenfall nicht mehr zu übersehen: Am Standort Reuter West erzeugt das Unternehmen Fernwärme mithilfe erneuerbarer Energien – über Power-to-Heat-Technologie und Speicherung in Deutschlands größtem Wärmespeicher. Den Umbauprozess treibt Chief Transformation Officerin Heike Tauber voran. Mit ihrem Team will sie die Berliner Stadtwärme in eine fossilfreie Zukunft führen.
Hitzeresistent muss man sein an diesem Augusttag, an dem das Glas der Sicherheitsbrille beschlägt. Dabei kündigt sich bei der Vattenfall Wärme Berlin AG schon der kommende Winter an. Der Sommer ist traditionell die Zeit der umfassenden Revisionen der Heizkraftwerke. In diesem Jahr aber erhalten sämtliche Erzeugungsanlagen am Standort Reuter West besondere Aufmerksamkeit. Alle technischen Komponenten müssen funktionieren in den kalten Monaten, auf die Berlin gespannt schaut. Seit Beginn des Ukraine-Krieges bereitet sich Vattenfall auf verschiedene Szenarien vor, um die Versorgung der Wärmekunden zu sichern. Die Energiequellen Kohle und Öl spielen notwendigerweise noch mit im Mix, doch der Krieg bestätigt, was längst beschlossen ist: Vattenfall Wärme will bis 2030 aus der Steinkohle aussteigen und bis 2040, fünf Jahre früher als von der Politik gefordert, vollständig klimaneutral arbeiten. Schon heute verändern neue Technologien das Gesicht des Standorts: Neben dem Kraftwerksblock arbeitet die europaweit größte Power-to-Heat-Anlage zur Nutzung überschüssiger Wind- und Sonnenenergie. Auf der anderen Seite baut Vattenfall gerade Deutschlands größten Speicher für Warmwasser, das mithilfe erneuerbarer Energien erwärmt wird. Der Umbau am Standort Reuter West mit den Steinkohleblöcken D+E ist im vollen Gange. Ein Sinnbild dafür, wie Vattenfall bei der Wärmeerzeugung umsteuert – nicht ein wenig, sondern um 180 Grad.

Platz für 56 Millionen Liter Wasser: Am Standort Reuter West baut Vattenfall einen 45 Meter hohen Speicher für Wasser, das mithilfe erneuerbarer Energien erwärmt wird.
U-Turn auf der Schnellstraße
Sie gehört zu den Lotsen, hält den Kurs: Heike Tauber ist Chief Transformation Officerin und koordiniert mit ihrem Team die Aktivitäten und Schnittstellen zwischen alter und neuer Energiewelt. Die Managerin sorgt dafür, dass parallel zum Umbau die Wärmeversorgung für 1,3 Millionen Berliner Wohneinheiten gesichert ist. »Energie für Raumwärme und Warmwasser macht knapp die Hälfte des Endenergiebedarfs aus. Klimaneutralität in der Stadt schaffen wir nur über die Wärmewende und nur gemeinsam«, sagt Heike Tauber, die unterschiedliche Großprojekte betreut. Ohne Blaupause, parallel zum laufenden Betrieb und mit hoher Geschwindigkeit.
Wie ambitioniert das 2040-Ziel ist, verdeutlichen Zahlen: 2021 verwendete die Vattenfall Wärme rund 77 Prozent Gas, 15 Prozent Kohle, aber nur 10 Prozent Energie aus Abwärme, Biomasse und Power-to-Heat. Den U-Turn in Richtung Klimaneutralität schieben vor allem neue und dezentral arbeitende Technologien an. »Zum Beispiel eine Hochtemperaturwärmepumpe am Potsdamer Platz. Mit ihr lässt sich die Abwärme aus dem Fernkältenetz konzentrieren, auf ein höheres Niveau bringen und im Stadtwärmenetz verteilen«, erklärt Heike Tauber. Eine weitere Wärmepumpe baut Vattenfall gemeinsam mit den Berliner Wasserbetrieben in Spandau. Sie wird rund 45.000 Haushalte allein mit der Abwärme aus dem Klärwasser versorgen. Abwärme aus der Abfallverbrennung des Kraftwerks der Berliner Stadtreinigung nutzt Vattenfall bereits jetzt. In einer Systemwarte soll die immer kleinteiliger werdende Wärmeerzeugung zukünftig zentral gesteuert werden.
Vom Wasserkocher in die Thermoskanne

Heike Tauber ist seit 21 Jahren im Unternehmen. Die Wärmewende ist für sie ein faszinierender Prozess, aber auch ein Kraftakt, der Investitionen erfordert. Ein Beispiel dafür ist die seit 2019 am Standort laufende Power-to-Heat-Anlage. Sie nutzt überschüssigen regenerativen Strom zur Warmwassererzeugung. »Das funktioniert im weiteren Sinne wie ein Tauchsieder«, erklärt Sergej Oks, Ingenieur für Verfahrenstechnik, und führt durch die Produktionshalle. In drei Elektrokesseln wird der Strom auf große Elektroden gegeben, die in das Wasser eintauchen und es erwärmen. Jeweils bis zu 40 Megawatt elektrischer Leistung können die drei riesigen Wasserkocher in Wärme umwandeln – genug für 30.000 Haushalte.
»Es ist eine einfache Technik, unglaublich schnell und flexibel«, begeistert sich Sergej Oks. Der Vorteil: Bläst der Wind sehr stark, lassen sich Energieüberschüsse nutzen. »Früher wurde die Winderzeugung von Netzbetreibern bei Überschuss abgeregelt. Das hat sich geändert, und wir können die Überschüsse zur Wärmeerzeugung nutzen«, erklärt Heike Tauber. Bislang gilt das nur bis Ende 2023, doch natürlich hofft man bei Vattenfall auf eine Verlängerung des Prinzips »Nutzen statt Abregeln« vom Gesetzgeber.
Von den Kesseln führen lange Rohrstraßen das Warmwasser zu einer weiteren im Bau befindlichen Neuinvestition auf dem Reuter-West-Gelände: ein 45 Meter hoher Stahltank nimmt das Wasser auf und hält es warm. Wenn die Power-to-Heat-Anlage wie ein Wasserkocher agiert, dann ist der neue Wärmespeicher die dazugehörige riesige Thermoskanne. Das Volumen beträgt 56 Millionen Liter oder 350.000 Badewannenfüllungen. Von dort aus reist das aufbereitete warme Wasser, wenn es benötigt wird, im Kreislauf durch das Berliner Netz und zurück.
Rahmenbedingungen verbessern
Wärme will Vattenfall in Zukunft eher in Gesamtsystemen planen. »Der Umbau des größten Stadtwärmenetzes Westeuropas und die Wärmewende insgesamt können nur gemeinsam mit Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gelingen, etwa durch die Förderung der Integration erneuerbarer Quellen«, sagt Heike Tauber. So sieht das Unternehmen beim grünen Wasserstoff und auch bei der Tiefengeothermie Potenziale für Berlin und fordert dafür gezielte Anreize und Absicherungen. Sichere Rahmenbedingungen und mehr Tempo sind der Transformationsmanagerin wichtig: »Wir investieren mehr als zwei Milliarden Euro allein bis 2030 in Erzeugungsanlagen. Dafür brauchen wir deutlich beschleunigte Planungs- und Genehmigungsverfahren.«
Um die 1.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Transformation mitzunehmen, hat Vattenfall Wärme eine Empowermentinitiative gestartet, ein großes Kulturprogramm, das fit und resilient für den Prozess machen soll. Die Motivation sei groß, allein schon, weil die Umstellung der Stadtwärme weg von der Kohle bis 2030 zwei Millionen Tonnen weniger CO2 bedeute, beschreibt Heike Tauber. Den größten Effekt aber sieht sie darin, die Erzeugung effizient zu gestalten. »Diese Transformation ist unumkehrbar, und ihr Ziel treibt mich an: unsere Stadt in Zukunft noch lebenswerter machen zu können.«